Punk und enfant penible – Multiinstrumentalist Matthias Schriefl

Er ist ein bunter Hund. Ein Paradiesvogel. Vielleicht auch ein Goldfisch im Karpfenteich. Auf gar keinen Fall aber eine graue Maus. Da sind sich wohl alle einig, denen der Name Matthias Schriefl etwas sagt. Wer aber ist der Mann hinter dem farbigen Brillenglas? Wer steckt in den flamboyanten Klamotten und hinter den durchaus schrägen Videos?

Matthias Schriefl wurde vor ein paar Wochen 37 Jahre alt. Ehrlich gesagt ist das schwer zu glauben. Er wirkt noch immer wie ein Student. Und zwar wie einer, der das Studium zwar nicht wirklich braucht, aber den man ohne Zögern verbilligt ins Konzert lässt. (Meistens kommt er zu Konzerten aber sowieso über den Bühneneingang.) Der Bursche hat etwas unerschüttert und ungebrochen Jugendliches an sich. Das ist mehr als die langen Haare ohne erkennbaren Weißanteil, mehr als der schlaksige Körper, mehr als die gelben kurzen Hosen, die er während des Gesprächs in der Frühlingssonne trägt. Es ist eher eine Umtriebigkeit, die man förmlich spürt, ein sprühendes Feuer, das scheinbar noch nicht von der Vernunft des gereiften Lebens eingedämmt wurde.

Der TrumpetScout dachte sich im Vorfeld: Das Gespräch könnte schwierig werden. Einer, der alles kann und so jung schon so viel erreicht hat, der könnte von seiner Begabung auch einen Schaden davongetragen haben. Also rein zwischenmenschlich. Er wäre nicht der Erste. Denn Schriefl gewann – hier sei nun Wikipedia zitiert – sehr früh Wettbewerbe und Vorspiele: Mit 11 Jahren wurde er Bundessieger bei Jugend musiziert, mit 15 Jahren spielte er sowohl im Landesjazzorchester Bayern als auch im Bundesjazzorchester, mit 17 gewann der den Jugend jazzt-Wettbewerb. Es folgte mit 24 Jahren der WDR-Jazzpreis und mit 26 wurde er zum ‚Rising Star‘ gekürt, was eine Tournee durch die größten Konzerthäuser Europas zur Folge hatte. Und das war nur ein Auszug seiner jung erworbenen Meriten. Schriefl ist also auf dem Papier durchgestartet wie ein moderner Sportwagen mit Launch Control. Doch gab es in der Realität auch hin und wieder Traktionsverluste, also Haftungsabriss?

Mehrmalige Ansatzkorrektur machte dem jungen Schriefl zu schaffen

Ganz so geradlinig, wie es einem der Lexikoneintrag weismachen mag, verlief vor allem Schriefls trompeterische Entwicklung nicht. Zwar begann er schon mit drei Jahren, auf einem Instrument der Familie (nennen wir es so:) Töne zu erzeugen und erhielt mit sechs Jahren den ersten Unterricht vom eigenen Vater. Doch zwei auf jenen folgende Lehrer meinten es vielleicht gut, wussten es aber nicht besser und zwangen den Jungen zu einer Ansatzumstellung nach dem Glaubenssatz optischer Zentrierung: Der junge Schriefl, der von Natur aus seitlich ansetzte, musste das Mundstück in die Mitte bewegen und wurde dadurch extrem behindert. Auch erinnert er sich an einen falschen Ratschlag eines Lehrers, der ihm helfen sollte, mit einer Verletzung kurz vor dem zweiten Jugend musiziert-Wettbewerb zurechtzukommen. Drei Tage vor dem Vorspiel lief der damals 13-Jährige gegen eine Glastür und verletzte sich die Lippe. Statt langer Töne wurde ihm ein äußerst kurzes Einspielen mit sehr hohen Tönen empfohlen. Der Schuss ging nach hinten los.

Eine cremefarbene Lederjacke, Baggy Jeans und eine rosarote Brille. Schwarz-Weiß tut einem Aus-der-Hüfte-Porträt da vielleicht sogar gut.

Multiphonics helfen gegen den engen Hals

Doch der Pubertierende fing sich und begann mehr auf sich selbst zu hören. Er hat sicher auch danach noch viel von anderen (Lehrern) gelernt, doch es beschleicht einen das starke Gefühl, dass in Matthias Schriefl noch ein viel stärkerer Autodidakt wohnt als in allen anderen großartigen Musikern. Ähnlich früh wie Wynton Marsalis erlernte er die Zirkularatmung und eignete sich auch bereits als Jugendlicher die Fähigkeit des mehrstimmigen Spiels an – der gekonnte Einsatz von Multiphonics bildet unter einem technischen Blickwinkel heute so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal von Schriefls Trompetenspiel. Interessant ist, dass er die Beschäftigung mit den Stimmbändern und deren verbesserte Kontrolle als wichtiges Werkzeug im (auch eigenen) Kampf gegen ein unter Trompetern weitverbreitetes Problem ansieht: der enge Hals durch eine nicht ganz geöffnete Larynx.

Schriefl, wenn er alles zeigt: Improvisation, Multiphonics, Range, Geräusche, Performance Art und (wie er sagt nur ein Gimmick): das Spielen auf zwei Kesseln gleichzeitig. Die Trumpet Section staunt im Hintergrund genauso wie der Rest der Band.

Ein Weltmusiker aus dem Bilderbuch

Matthias Schriefl wird oft als Grenzgänger verstanden, einer, der mit jedem Schritt zwischen den Welten hin- und herspringt: Auf der einen Seite die alpenländische Volksmusik und auf der anderen der vermeintlich hochkomplexe und intellektuelle Jazz, der aber in Wahrheit auch eine Volksmusik ist oder zumindest aus ihr hervorging. Schriefl ist mehr als das Spiel mit diesem Kontrast, wenngleich viele seiner Besetzungen von der Verbindung jener beiden Pole zeugen. Er ist ebenfalls in der lateinamerikanischen und genauso in der indischen Musiktradition firm. Der Allgäuer ist eigentlich die ideale Verkörperung des akkurat verstandenen Begriffs eines Weltmusikers. Überall daheim. Das für viele furchteinflößende Don Ellis-Programm, das er kurz nach dem Interview in Köln aufführte, bereitet ihm deshalb keine Bauchschmerzen. „Ich habe mich seit mehr als zehn Jahren mit indischer Musik beschäftigt, 13/8 sind da kein Problem. Für mich ist eher die Ausdauer die Herausforderung.“

Keine zahlenden Gäste, aber ein großes Publikum. Schriefls spontane Kostprobe dürfte den Anwesenden und Anwohnern gefallen haben. Normalerweise bespielt er – wenn Freiluft – neben Fjorden und Almen eher Fußgängerzonen. Nach dem Interview waren Linzer Plattenbauten an der Reihe.

Gegensätzliche Einflüsse: Schriefls Kindheit

Wie aber ist der Drang nach Vermischung und Horizonterweiterung und immer auch mit Erwartungsbruch, der eben auch einen Don Ellis auszeichnete, bei Matthias Schriefl erklärbar? Seine Herkunft könnte hier Aufschluss geben. Der Vater kam aus Berlin, wurde noch in den letzten Kriegsjahren geboren. Die Mutter stammt aus einer Allgäuer Handerwerkerfamilie. Der Vater studierte Mathematik und Physik, war also Naturwissenschaftler. Wo Schriefl Junior aufwuchs, las man aber bis in die 90er Jahre die Messen noch auf Lateinisch und betrachtete Exorzismus ernsthaft als probates Mittel gegen so manch akute seelische Erkrankung. Rationalismus und eifriger Glaube trafen da aufeinander. Clash of Cultures also. Blasmusik spielte daheim natürlich eine große Rolle. Die Familie der Mutter bildete alleine schon eine eigene Kapelle. Hausmusik war Teil des vordigitalen Freizeitprogramms. Der Vater hörte hingegen Swing-Platten. Kein Bebop, wie der Sohn klarstellt, traditionellen Swing, Dixieland, aber auch gute Popmusik. Das sind also schon zwei starke und sehr unterschiedliche Prägungen. Die Zugänge dürften aber ähnlich gewesen sein: Zuhören, Mit- und Nachspielen. „Einen Aebersold [Anm.: Play Along Jazz-Literatur] bekam ich erst von einem späteren Lehrer.“

„Es gibt keine unmusikalischen Menschen.“

Mit 17 Jahren starb der Vater. Ganz sicher auch ein Bruch. Schriefl sagt nicht viel dazu: „Ein gescheiter Mann war das.“ Der Tonfall zeugt von großer Wertschätzung. Vielleicht hat der Sohn seinen Wissendurst vom Vater geerbt? Dem war Musik in dessen späten Jugendjahren so etwas wie ein selbstverschriebenes Therapeutikum – die Nachkriegsjahre waren für viele belastet, für Eltern genauso wie für Kinder. Für den Sohn ist Musik zwar augenscheinlich Beruf und Berufung, aber auch etwas, das die Welt besser machen kann. „Wenn alle Menschen Musik machen würden, gäbe es sicher weniger Kriege.“ Als der TrumpetScout entgegnet, dass da die gänzlich Unmusikalischen ziemlich blöd daständen, lautet Schriefls Antwort erwartungsgemäß, dass es keine unmusikalischen Menschen gebe. Musik ist also für ihn eine universelle Ausdrucksform. Und wieder ist man bei der Weltmusik.

Farblose Flower Power – aber nur auf diesem Bild, nicht im echten Leben.

Apropos Welt. Schriefl sah seine Heimat trotz strengstem Katholizismus nicht als Gefängnis, sondern als wunderbare Sphäre der Unabgelenktheit: Es gab keinen Fernseher und wenig anderes, dass einem Zeit geraubt hätte. Nur Musik und Fußball. Dass einem Schriefl das beschauliche obere Allgäu über Kurz oder Lang trotzdem nicht ausreicht, ist klar. Nach den Internatsjahren im kulturell kargeren unteren Allgäu (wo Schriefl ein Schulband formierte und gleich dazu noch Instrumentalunterricht gab), ging er nach Köln, die deutsche Musikhauptstadt, und studierte bei Andy Haderer Jazz-Trompete. Erst dort begann der heutige echte Multiinstrumentalist (er spielt Blech- und Holzblas-, aber auch Saiten- und Tasteninstrumente und sogar einiges aus dem perkussiven Fach) damit, weitere Blechblasinstrumente zu erlernen. Eine Piccolo-Trompete besitzt er z.B. erst seit zwei Jahren!

Matthias Schriefl ist ein penibler Arbeiter, kein Wurstikus

Über die Karriere im klassischen Sinne soll an dieser Stelle gar nicht mehr viel gesagt werden. Mittlerweile gibt es 12 Alben, die unter Schriefls Ägide entstanden. Das letzte wäre für den Jazz-Echo nominiert gewesen (wenn der Preis überlebt hätte!) und verweist mit seiner etwas sperrigen Bezeichnung auf Schriefls besonders erfolgreiches Projekt Shreefpunk: Matthias Schriefl mit Shreefpunk plus Big Band – Europa.

Für die Fertigstellung dieses Albums brauchte es geschlagene sieben Jahre. Für einen Track saß Schriefl gar zwei Wochen im Studio, um die für ihn perfekte Mischung zu erzielen. Ist das penibel oder schon neurotisch? Auch hier scheinen zwei Herzen in der Brust des hageren Herrn zu schlagen. Auf der einen Seite liebt er das Improvisierte, die makelbehaftete, aber echte Momentaufnahme. Er erzählt mit Begeisterung von Lew Soloffs gerade noch so herausgedrücktem letzten Ton im berühmten Spinning Wheel-Solo. Auf der anderen Seite leistet er sich die extrem teure Studiozeit und eine sehr späte Publikation seiner Aufnahmen und ergo auch einen späten monetären Rückfluss.

„Lead-Trompete spielen ist wie Ferrari-Fahren.“

Hier ist auch die Disziplin und Akribie in anderen Gebieten zu verorten: Schriefl wurde gefragt, in einem norwegischen Orchester die Lead-Trompetenstimme zu übernehmen. Auch so etwas macht er. „Als Lead-Trompeter hast du am wenigsten Freiheit in der ganzen Band. Du musst deinen Part am besten immer gleich spielen, wie eine Maschine. Aber es ist halt auch ein bisschen wie Ferrari-Fahren – hin und wieder ziemlich geil.“

Auf jeden Fall musste er für diese Aufgabe in Ansatzsachen sehr fit sein. „Da ich zuvor zwei, drei Wochen meine Steuererklärung machte und nicht viel zum Spielen kam, stand ich dann eine Zeitlang jeden Tag um fünf Uhr auf und habe geübt.“ Das klingt sehr preußisch. Aber auch kompromisslos. Halbe Sachen scheint Matthias Schriefl nicht zu machen.

Darüber hinaus liebt er die Herausforderung. Das Liebste scheint ihm das zu sein, was er noch nicht kann, aber im Begriff ist zu meistern. Viel bleibt da freilich nicht. Ein anstrengender Tuba-Gig beschert dem Mann mit wechselnder Bartfrisur und Hang zu schriller Verkleidung aber z.B. eine unerhörte Freude.


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Möglicherweise ist jetzt die Zeit gekommen, Wissen weiterzugeben. „Ich möchte gerne andere von dem profitieren lassen, was ich erfahren habe. Jetzt habe ich auch die nötige Reife dazu. Ich finde es immer komisch, wenn man als Student gefragt wird, ob man nicht Stunden geben möchte. Das geht noch gar nicht.“ Und als Purzelbaumkind sieht sich Schriefl wahrlich nicht. Er ist auf so viele trompeterische Probleme gestoßen, dass er gar nicht weiß, wo er anfangen soll zu erzählen. Sagt er zumindest. Was er kann, habe er sich hart erarbeitet. Lange Zeit konnte nicht einmal ein C3 spielen. Er, der heute am Ende eines minutenlangen Solos nicht mühelos, aber doch routiniert und ganz nach Belieben ultrahohe Töne einstreut.

Doch kein schwieriger Typ

Eigentlich hätte das Interview mit dem nach einjähriger Allgäu-Auszeit wieder in Köln lebenden Matthias Schriefl einen Tag später stattfinden sollen. Ein Gig einer kurzen Alpen-Tour fiel aber aus und so traf ihn der TrumpetScout auf einem Spielplatz vor einem Studentenwohnheim, wo die Band eine improvisierte Bleibe fand. Mit dabei ein Fußball, möglicherweise besorgte Eltern und Schriefls Trompete. „Die ist fast immer und überall dabei.“ So spielt er für die Fotos ein wenig zwischen den Betonbauten. Das erzeugt verstohlene Blicke. Ein Langhaariger in kurzer Hose und mit rosaroter Brille auf einem Kinderspielplatz, der Trompete spielt. Schriefl scheint geübt darin zu sein, solche Blicke auszuhalten. Möglicherweise genießt er sie auch. Er ist sicher ein erfahrener Agent Provocateur – aber kein, wie vermutet, schwieriger Typ. Nur als der TrumpetScout ihn im Gras sitzend fotografieren möchte, mit seinen zerschlissenen Schuhen (die er einen Tag danach auch auf der Bühne trägt) nahe an der Linse, lenkt er ein: „Die Schuhe besser nicht. Sonst denken die Leute ja, es geht mir schlecht.“ Schriefl ist zwar ein Freigeist und Regelverletzer; ein Punk. Aber er achtet auf Details.

Für Konzerttermine und Videos sei Matthias Schriefls Webseite empfohlen.