The Tower of Power: Thorsten Benkenstein spricht

Den Namen Thorsten Benkenstein sprechen viele mit sehr großem Respekt aus. Das liegt nicht nur daran, dass es sich bei der Person, die ihn trägt, um einen der profiliertesten Lead-Spezialisten Europas handelt, und auch nicht an deren hünenhafter Erscheinung. Vielmehr ist es die außerordentliche Ruhe, die der Norddeutsche ausstrahlt. Der TrumpetScout hat sich aufgemacht, diese mit Fragen herauszufordern.

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Volle Konzentration, die Position in der Mitte – und ein Bärtchen unter der Nase. Das sind nur drei der Markenzeichen von Thorsten Benkenstein.

Thorsten Benkenstein als einen Mann der leisen Töne zu bezeichnen, wirkt auf manche vielleicht wie ein Scherz, angesichts des von ihm und seiner Trompete erzeugten Schalldrucks wahrscheinlich sogar wie eine despektierliche Unterstellung. Man muss das natürlich metaphorisch verstehen: Keine eigene Webseite, keine als Sprachrohr genutzte Facebook-Präsenz, keine Workshop-Aktivität, keine Professur. Auf seinem Telefon ist er auch nicht leicht zu erreichen. Worte, und vor allem große, scheint er gerne anderen zu überlassen. Für ihn spricht sein Instrument. Und wer ihn schon einmal live gehört hat, weiß, dass dieses den Mund ziemlich weit aufreißen kann…

Benkensteins erste Stationen: vom Posaunenchor zu Bob Lanese

Blickt man auf Benkensteins Entwicklung, so erkennt man Parallelen zu seiner Persönlichkeit: stetig, solide, unaufgeregt. Eruptive Veränderungen scheint es nicht gegeben zu haben. Begonnen hat der 1968 geborene Bremer mit zehn Jahren im Posaunenchor. Einfach so. Besondere Initiativ-Erlebnisse hat es nicht gegeben. Er erinnert sich nur an ein Big Band-Konzert, das er als Jugendlicher besuchte und ihm gefiel. Vielleicht ging er deshalb mit 17 Jahren zu Bob Lanese nach Hamburg, der zu dieser Zeit bereits lange Jahre in Diensten von James Last stand. In Laneses eigener Big Band konnte der Jungspund bereits echte Profi-Erfahrung sammeln. Obwohl ihm der gebürtige Amerikaner nicht nur viel in Bezug auf Technik sondern auch Stilistik in puncto populärer Musik beibrachte, ging Benkenstein nach der Schule jedoch nach Köln, um klassische Trompete zu studieren. Für ihn war das der einzige Weg, um Profi zu werden (offensichtlich ein – wenn auch unausgesprochenes – Ziel), wenngleich es Mitte der 80er Jahre dort schon das Jazz-Fach gab. „Ich konnte ja nichts anderes“, sagt der Bremer heute und meint damit seinen Rückstand gegenüber den Kollegen, die munter über Akkorde improvisierten.

Der Studienabbruch war kein Schiffbruch

Wenn ein Zwanzigjähriger behauptet, er könne nicht improvisieren wie andere, dann darf man zurecht entgegensetzen, dass die Zeit noch ausreichen dürfte, um hier aufzuholen. Benkenstein entgegnet: „Ich hatte genaue Vorstellungen, und die konnte ich nicht umsetzen. Das hat mich frustriert.“ Entweder konnte der Mann aus dem Norden Deutschlands seine Begabungen realistisch einschätzen und hat deswegen alles auf seine früh zu Tage tretende Begabung gesetzt oder es hat möglicherweise mit einem anderen Aspekt seiner Persönlichkeit zu tun: Als Solist spielt man alleine, oft im Rampenlicht, aber immer auf dem Präsentierteller. Das scheint Benkenstein bis heute zu widerstreben.

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Es wirkt schon alleine optisch so, als habe er die Trompete vollkommen im Griff. Die Akustik bestätigt das.

Auf jeden Fall versuchte er sich als Orchestertrompeter (er zweifelte in den 80er Jahren auch bereits zurecht am generellen Fortbestand der Big Band in der Breite und fürchtete schlechte Berufschancen als Swing-Musiker), spielte zwar nie ein Drehventil-Instrument, hatte aber immerhin ein tiefes Mundstück. Das hatte den selben Rand wie das für die Lead-Jobs, damit das Wechseln nicht schwer fiel. Moment: Wechseln? Lead-Jobs? Sie haben richtig gelesen. Benkenstein versuchte sich in beiden Welten und nahm auch während des Studiums in Köln weiter Stunden bei Bob Lanese in Hamburg. Aus bekannten Gründen hat das der Klassik-Karriere nicht gut getan. „Ein anstrengender Abend mit der Big Band stört natürlich die nötige Feinstabstimmung der Lippen für den nächsten Morgen im Orchester.“ So kam es, wie es kommen musste und auch gut war: Aufgrund der großen Nachfrage nach dem starken ersten Trompeter konnte Benkenstein guten Gewissens das Konzertfach-Studium abbrechen.

Wichtige Lehrmeister: Peter Herbolzheimer und Bob Brookmeyer

1987 wurde vom renommierten deutschen Bandleader, Komponisten und Arrangeur Peter Herbolzheimer das Bundesjazzorchester gegründet. Kurz danach stieß der jungen Benkenstein zur Truppe und musste nicht einmal an einem echten Auswahlverfahren teilnehmen, so sehr hatte er sich bereits einen guten Ruf erspielen können, der ihm vorauseilte. Von da an war es um den Gig-Kalender nie mehr schlecht bestellt. In vielen Radio-Big Bands half er aus, genauso bei der von Thilo Wolf oder der des sehr geschätzten ehemaligen Basie-Lead-Trompeters Al Porcino. 1993, mit also gerade einmal 25 Jahren wurde er Mitglied beim Mathias Rüeggs berühmtem Vienna Art Orchestra (VAO) und tourte mit diesem bis 2005 bzw. spielte Platten ein. Wer sich hier einmal ein paar Aufnahmen oder Youtube-Clips angehört hat, weiß, wie intensiv und fordernd diese Literatur ist.

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Das Spiel mit dem Publikum während der Pausen ist nicht seines. Das Spiel zwischen den Pausen liegt ihm mehr.

Zur gleichen Zeit begann jedoch auch die Zusammenarbeit mit Bob Brookmeyer (hier ein Clip mit dessen Big Band, die später zum New Art Orchestra wurde), einem anderen Amerikaner, der Benkenstein maßgeblich prägte. „Ich bin dankbar, dass ich früh mit so guten Leuten zusammen Musik machen durfte. Gerade Brookmeyer war wahnsinnig genau, diszipliniert, wusste, wie er seine Musik gespielt haben wollte. Geprobt haben wir acht Stunden täglich, er hat beständig über das richtige Phrasing doziert. Da konnte man unendlich viel lernen – und hat den gleichen Fehler besser kein zweites Mal gemacht…“  Lehrzeit würde aufgrund dieser Schilderung besser passen. Aber mit der richtigen Attitüde enden die Lehrjahre nie und die sprichwörtlichen Herrenjahre fangen gar nicht erst an. Und diese Einstellung zeichnet Benkenstein wie die meisten großartigen Musiker (allgemeiner noch: Menschen) aus. Zum Zuhören und Lernen braucht es keine große Klappe.

Exerzieren geht über studieren

Zuhören ist natürlich auch für Benkenstein das Fundament der interpretatorischen Reife. Dazu gehört das Hören von Instrumentalsolisten genauso wie das von Sängern (allen voran Frank Sinatra), aber eben im Speziellen auch von Leadtrompetern wie dem bereits erwähnten Al Porcino (v.a. auf der Sinatra-Basie-Platte) oder dem legendären Conrad Gozzo. Die Reihe studieren – imitieren – ausüben (im Sinne von zurückgreifen) ist nur natürlich und bedingt keine musikalische Inzucht, sondern vergrößert das Archiv, auf das man je nach Anforderung zurückgreifen kann. Dass Thorsten Benkenstein dennoch einen eigenen Stil entwickelt hat, steht außer Frage. Vor allem sein Sound ist nur schwer verkennbar und hat Trompeter wie Tobias Weidinger hörbar inspiriert, wenn nicht gar infiziert.

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„Sein Ton ist eine Wand, seine Genauigkeit beeindruckend.“ Das sagen nicht nur die Kollegen.

Phrasing und Kraft sind aber nicht alles, Akkuratesse bei der Durchführung ist genauso wichtig. Robert Bachner, ehemaliger Posaunist des Vienna Art Orchestra, der jahrelang vor Benkenstein spielte (aber noch nicht taub ist!), merkt an: „Absolute Weltklasse wie der jedes Crescendo angeht, jeden Akzent.“

Thorsten Benkenstein und Ansatzprobleme? Das passt nicht zusammen.

Es klang bereits an, dass der Kaventsmann an der ersten Stimme aufgrund einer natürlichen Begabung an die Stelle kam, die er heute wie kaum ein Zweiter besetzt. Dennoch gab es auch bei ihm einen Eingriff bei seiner Ansatztechnik: Mit 20 Jahren zog er seine Oberlippe so weit aus dem Mundstück, dass er teilweise auf dem Lippenrot ansetzte. „Ich konnte damals wahrscheinlich sogar höher spielen als heute, aber hatte kaum Flexibilität und konnte nicht mehr nach unten zurück.“ Gemeinsam mit Bob Lanese wurde deshalb korrigiert. Ansonsten verlief der Reifeprozess ohne Sprünge – und beinahe wie bei einem Leistungssportler. Benkenstein gibt nämlich unverhohlen zu, dass er mit 25 vielleicht gar fitter war als heute, also in dem Alter auf dem Zenit, in dem die körperliche Leistungsfähigkeit potenziell am größten ist. Nach 30 Jahren höchstklassigem Trompetenspiel helfen einem aber Erfahrung und Routine, dass dies niemand merkt. Dennoch: „Ich muss heute mehr machen um mein Niveau zu halten, gönne mir aber auch Pausen, was ich früher nicht gemacht habe.“ So legt er im Sommer die Trompete auch einmal für vier Wochen aus der Hand.

Training und persönliche Grenzen

Die Jobs, für die ein Benkenstein gebucht und gebraucht wird, sind per se physisch fordernd. So erinnert er sich an die Udo Jürgens-Tourneen mit dem Pepe Lienhard-Orchester: „165 Konzerte in 2 x 12 Wochen, mit zwei Wochen Pause. Das ging Schlag auf Schlag.“ Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass jeden Abend vom Publikum Top-Leistungen erwartet werden. Vor allem die letzten Tourneen, zu denen Trompetenkollege Torsten Maaß die Arrangements beisteuerte, wurden noch einmal verschärft. Auf die Frage, ob er schon einmal an seine Grenzen geführt wurde, antwortet Thorsten Benkenstein: „Die Konzertreisen mit dem VAO waren sehr hart. Spielerisch – und körperlich wegen der langen Strecken. Zum Teil um Fünf aus dem Hotel, dann bis zu 15 Stunden reisen und abends ein extrem anstrengendes Programm.“

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Um sich fit zu halten was den Ansatz anbelangt, spult der seit 2005 amtierende Leadtrompeter der Big Band des Norddeutschen Rundfunks (NDR) täglich das immergleiche Programm ab – „im Grunde ein ausgedehntes Einspielen“. Das beginnt mit Flüstertönen und hangelt sich über Binde- und andere Flexibilitätsübungen hin zu harten Attacks. Pedaltöne sind genauso Teil davon wie Staccato-Töne im sehr hohen Register. Wenn er danach nicht mehr spielen muss, powert er sich auch mit Caruso-Übungen aus, bei denen man die Töne hält bis die Lippen nachlassen und stärkt so seine Ausdauer. Nach dem Urlaub brauche aber auch der sanft sprechende Träger eines Oberlippenbartes 14 Tage und zumindest einen Big Band-Gig, um wieder voll in Schuss zu sein.

Seine spielerische Stärke speist sich aber zu einem erheblichen Teil aus seiner mentalen. Er kenne zwar Nervosität und den Druck, der auf dem Spieler der Lead-Trompete laste, aber er konnte damit ohne konkretes Konzept immer gut umgehen. Das für manch anderen obligatorische Bier hat er deshalb nie gebraucht. Und mit ihm auf alle mit kontinuierlichem Alkoholgenuss zusammenhängenden Folgen verzichtet.

Benkensteins Equipment

Im Grunde spielt Benkenstein seit langer Zeit ein Mundstück, das einem 13A4 von Schilke gleicht. Ursprünglich war es ein 13A4A, ihm wurde dann zur größeren Backbore geraten und er verzichtete daraufhin auf das A in der Gravur. Das Schagerl-Modell Thorsten Benkenstein, aber auch die augenblickliche Yamaha-Kopie weichen davon kaum ab, bieten lediglich mehr Masse.

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Benkensteins Trompeten kanalisieren seine Urgewalt – und brauchen dazu eine ordentliche Portion Stabilität, wären also für so manch anderen wahrscheinlich zu schwer und offen. Das Resultat ist dafür „earblowing“.

Bei den Trompeten sind augenblicklich zwei in Benutzung: die große und schwere Schagerl Aglaea und seit Neuestem ein Backup-Horn von Yamaha, eine stark modifizierte YTR-8345RG. Sie wurde mit einem wärmebehandelten Mundrohr ausgestattet, der Eingang in die Leadpipe geändert, die Ventilfedern sind aus einem schweren Material, dazu gesellen sich schwere Ventildeckel und auch ein thermisch behandeltes Schallstück. Wichtig ist zwar auch für Benkenstein in erster Linie das Spielgefühl, aber der fette Sound darf nicht zu kurz kommen, weshalb er gerne bei den Schwergewichten mit großer Bohrung zugreift. Den richtigen Widerstand braucht aber auch er, sucht ihn jedoch über die Masse. Die Kraft dazu hat er unbestritten – der leise Mann der lauten Töne.

 Nachwort

Die Welt ist grau – auch wenn wir sie nur allzu gerne schwarz-weiß zeichnen wollen. Lupenreine Dualitäten dienen oft nur der Veranschaulichung oder Belustigung (und leider auch der Verhetzung). In der Realität gibt es sie kaum. Aber hin und wieder findet man doch Komplementäre, die aufgrund ihrer offensichtlichen Gegensätzlichkeit eigentlich einem Märchen entspringen müssten. Dem TrumpetScout stach ein solches Gegensatzpaar förmlich ins Auge als er Thorsten Benkenstein zum Interview vor einem Konzert mit Thomas Gansch traf: Der Eine stammt aus dem Süden, der andere aus dem Norden. Der Eine trägt sein Herz auf der Zunge, der andere geht mit Worten sparsam um. Der eine schlüpft in bunte Hosen, der andere nur in Schwarz. Der eine ist ein Zappelphillip, ständig in Bewegung, der andere ist ein Fels und absoluter Ruhepunkt. Der Eine hat für seinen Erfolg viele Hürden überspringen müssen, der andere ist gefahren wie ein Eisbrecher. Der eine ist der geborene Solist, der andere der geborene erste Mann. Der eine wechselt die Bartfrisur wie die Unterhosen, der andere hält an seinem Schnauzer fest wie an einer Familientradition.

Was sie eint? Beide nehmen auf ihre Weise die Musik sehr ernst. Beide sind fleißig. Beide haben ihren Platz gefunden. Beide sind sie Weltklasse.

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Zwei wie… aus einem Italowestern? Zwei Mal Weltklasse ganz sicher: Thomas Gansch aus dem wilden Süden und Thorsten Benkenstein aus dem kühlen Norden.