Wie viele Stunden beschäftigen Sie sich im Schnitt pro Woche mit der Trompete? Und damit ist nicht nur das Üben gemeint… Wie oft am Tag denken Sie an die Königin der Instrumente und wie oft besuchen Sie einschlägige Foren oder Internetseiten? Obacht! Möglicherweise sind auch Sie bereits trompetensüchtig. Ein abschreckendes Interview.
Es ist vornehmlich ein Männerproblem und wie die Trunk- oder Spielsucht nicht zu unterschätzen. Wenn sich alles im Leben nur noch um die Trompete dreht, das Ersparte in Mundstücke und neue Instrumente fließt und neben Proben, Gigs, Internet-Recherche und dem Schauen von Youtube-Videos keine Zeit mehr für Freunde und Familie bleibt, dann spricht man von einer speziellen Form pathologischer Blechsucht. Der TrumpetScout konnte ein Opfer ausfindig machen und es zu einem Gespräch überreden. Die junge Frau ist indirekt betroffen. Nicht sie ist blechsüchtig, sondern ihr Lebensgefährte. Ihr Leben dadurch: eine Hölle aus lauten Tönen, Messinggestank und Missachtung.
Es ist Freitag, halb Zwei auf einem belebten Platz einer mittelgroßen deutschen Stadt. Im Trubel halte ich Ausschau nach Karina [Anm. Der Name wurde von der Redaktion geändert]. Ich weiß nicht wie sie aussieht, aber sie wird mich erkennen. Mein Revers ziert heute – wie vereinbart – ein Geigen-Pin und ausnahmsweise keine Trompetenanstecknadel. Das Halskettchen bleibt sicherheitshalber auch unter dem zugeknöpften Hemd versteckt. Plötzlich sehe ich sie: Eine zierliche Frau, Ende zwanzig, kommt schüchtern auf mich zu. Wir suchen uns ein ruhiges Café ohne Musik. Sie wirkt nervös, ihre Augen sind glasig, ihre Bewegungen fahrig. Ich weiß nicht, wie ich das Gespräch beginnen soll. Diese Frau ist gezeichnet von schrecklichen Erlebnissen, hat aber dennoch den Mut, mit mir über etwas zu reden, worüber sie nur mit ganz wenigen Menschen spricht. Ihr Freund ist blechsüchtig, erschwerend kommt hinzu: Er spielt Trompete.
„Mit ein bisschen Trompete könnte ich ja leben.“
Rückblick: Karina R. kam im Tschernobyl-Jahr 1986 zur Welt. Als Tochter einer Musikschullehrerin hatte sie bereits früh Kontakt zu Musikern. Das ist wohl einer der Gründe, warum sie am Ende ihres Studiums eine Beziehung mit einem Trompeter eingegangen ist. Sie hatte kein natürliches Misstrauen entwickelt. Ihrer Mutter will sie heute dennoch nicht die Schuld an ihrer Situation geben.
„Ich war Früh Teil einer sogenannten Musikschule. Für mich waren Menschen, die ein Instrument spielten, irgendwie normal. Heute weiß ich, wie falsch das ist. Als ich Paul [Name ebenfalls geändert] kennenlernte und er mir sagte, dass er Musiker ist, dachte ich anfangs an ein harmloses Instrument. Gitarre oder Klavier, irgendwas Normales eben. Als ich dann bemerkte, dass er einem Blechblasinstrument verfallen war, war ich emotional schon zu sehr in der Beziehung verhaftet. Mit ein bisschen Trompete hier und da kann ich schon leben, dachte ich. Das er zu dem Zeitpunkt jedoch schon jahrelang abhängig war, das wurde mir erst zu spät klar.“
Karina fummelt umständlich in ihrer Handtasche. Sie holt ein Taschentuch heraus. Mit zittrigen Händen tupft sie sich eine Träne vom Gesicht. Ein unangenehmer Messinggeruch macht sich breit. Sie bemerkt ihn. Er ist ihr spürbar unangenehm.
„Entschuldigung. Ich muss Paul heute noch Mundstücke vorbeibringen. Er hat eine Big-Band-Probe und nur vier Mundstücke eingepackt. Da sie noch ein spezielles Stück proben, werden ihm die nicht reichen. Es muss ein anderen Kessel her. Drum hat er mich vorhin angerufen. Er weiß nicht, dass ich mich mit Ihnen treffe, sondern glaubt, ich bin heute wie üblich früher zuhause. Deshalb habe ich die Mundstücke jetzt schon dabei.“
Und wie macht sich die Sucht im Alltag bemerkbar?
„Anzeichen dafür, dass ihn die Trompeterei vollkommen im Griff hat, gab es schon früh. Anfangs dachte ich, er ist romantisch und erzählt mir bei unseren Rendezvous deshalb von Chet Baker. Ich lag leider falsch. Trompeter und Trompeten sind quasi sein einziges Gesprächsthema. Oft denke ich mir, ich hätte ihn am Beginn unserer Beziehung verlassen sollen. In dem Moment, wo mir das Ausmaß seiner Trompetensucht erstmals so wirklich klar geworden ist. Das war ein paar Monate nachdem wir zusammengezogen sind. In eine große Wohnung mit einem zweiten Schlafzimmer. Nicht für Kinder, sondern für acht Trompeten, 51 Mundstücke, Öle, Dämpfer, Trompentenständer, Gigbags. Okay, immerhin ordentlich, dachte ich mir, doch weit gefehlt. Das Blech breitete sich aus, wie ein Pilz. Erst lagen Trompeten auf dem Esstisch, dann auf der Couch und manchmal sogar in der Küche. Bald verbreiteten die alten Koffer der Vintage-Instrumente ihren süßlich-üblen Geruch von Pferdeställen. Einmal kam ich nach der Arbeit müde nach Hause und wollte ein Bad nehmen, da lag eine Trompete im Seifenbad und färbte das Wasser gräulich durch Grünspan und zersetzte Speisereste. Er hatte das Ding bei Ebay ersteigert und die Spucke von Jahrzehnten in unserer Wanne eingeweicht. Ich habe mich so geekelt. Sogar als ich mich fast übergeben musste, zeigte er weder Reue oder Einsicht, sondern sagte nur, ich solle mich nicht so anstellen. Auch die Ölflecken auf den Laken stören ihn nicht, denn selbst im Bett liegen regelmäßig Flügelhörner und Trompeten. Ich will gar nicht wissen, was er damit anstellt, wenn ich nicht da bin.“
Sie stockt, zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen oberflächlichen Schluck von ihrem Kaffee. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie diese tägliche Zurücksetzung aushalten kann. Warum verlässt sie ihn denn nicht?
„Wissen Sie, ich werde bald 30. Ich habe Angst davor, alleine zu sein, denn in meinem Alter ist es nicht mehr so einfach, jemanden zu finden. Vielleicht nehme ich seine Trompeterei deshalb in Kauf. Manches fällt mir auch gar nicht mehr auf, wie die Nachbarn, die auf der Straße leise Verwünschungen brabbeln, wenn sie mich sehen, weil ER trotz mehrmaliger Bitten auf sein vermeintliches Recht pocht, bis 22 Uhr in den höchsten Tönen zu üben. Ich merke es nur noch selten an den Blicken der anderen. Wenn sie im Urlaub starren, weil er mit einer Plastiktrompete am Strand sitzt. Wenn sie auf der Autobahn gaffen, weil er am Steuer in sein Mundstück bläst. Wie sie mitleidig schauen, wenn wir zu einer Geburtstagsfeier wie immer viel zu spät kommen, weil er urplötzlich noch zwei Stunden üben musste, von denen er anderthalb Stunden gar nichts macht außer Trompetenvideos schauen oder Blogartikel lesen. ‚Üben im Kopf‘ nennt er das immer und wiederholt tausendfach ‚Pausen gehören zum Üben‘. Ich hätte ihn schon viel früher verlassen sollen, aber jetzt… jetzt habe ich lieber… ich traue es mir fast nicht sagen: Ich habe lieber einen Trompeter als alleine zu sein. Können Sie das verstehen?“
Karina muss die feuchten Augen hinter ihren Händen verbergen. Wie schrecklich müssen die Töne ihres Peinigers sein, dass sie den Willen zur freien Entfaltung einer noch so jungen Frau brechen konnten? Sie scheint sich aufgegeben zu haben. Hinter dem Blech ist sie nur zweite Wahl, hat sich damit aber offensichtlich arrangiert.
„Geküsst hab ihn schon seit einem halben Jahr nicht mehr. Immer ist da der rote Halbkreis auf der Oberlippe und der Messinggeschmack ist so penetrant…“
Sie bricht in Tränen aus. Womöglich habe ich sie mit dem Interview mit etwas konfrontiert, dass sie erst mühsam verdrängt hatte. War es richtig, mit ihr zu sprechen? Und ist Karina R. ein Einzelfall oder nur eine von unzähligen Personen, die mit einem Trompetensüchtigen in einer Beziehung sind und tagtäglich Demütigungen und Kränkungen erleiden müssen?
Geheime Ankäufe und Youtube auf dem Klo sind ernste Alarmsignale für einen schweren Blechschaden
Wenn diese aufgebrochene Wunde für etwas gut sein könnte, dann vielleicht als abschreckendes Beispiel: Nehmen Sie, lieber Leser, diese Schilderungen ernst! Verheimlichen Sie vor Ihrem Lebenspartner Neuanschaffungen? Führen Sie ein geheimes Konto mit Trompetenschwarzgeld? Lauschen Sie heimlich mit Kopfhörer hohe Töne oder Trompetenkonzerte auf dem Klo? Dann haben Sie vielleicht schon einen Blechschaden, aber es ist noch nicht zu spät, denn Sie sind sich der Fehlerhaftigkeit ihres Handelns bewusst. Gestehen Sie sich die Sucht ein, gehen Sie offen und progressiv damit um. Setzen Sie sich Limits: Verkaufen Sie nach der sechsten Trompete für jede Neuanschaffung ein altes Horn und fragen Sie sich, ob die zweite D-Trompete und die Hoch-Es für Sie wirklich Sinn machen. Kontrollieren Sie Ihr Online-Verhalten und nehmen Sie sich vor, maximal fünf Youtube-Trompetenvideos nacheinander zu schauen. Und beschäftigen sie sich hin und wieder mit Ihren Liebsten aus Fleisch und Blut. Vielleicht fragen Sie zur Abwechslung Sohn oder Tochter, wie es im Cello-Unterricht so läuft – auch wenn Sie das überhaupt nicht interessiert.
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