Über Selmers ‚Fächertrompete‘, die Radial, hat der TrumpetScout bereits ausführlich berichtet. Untersuchungsobjekt war die wahrscheinlich am weitesten verbreitete Variante 75 mit großer Bohrung. Doch es geht noch mehr. Die Selmer Radial 99 ist auch als wirklich große Französin mit XL-Bohrung und großem Becher erhältlich. Wie die sich spielt? Auflösung hier.
Über die Entwicklungsgeschichte der Radial-Serie und deren distinktive Merkmale – zuvorderst natürlich die im 2°-Winkel zueinander stehenden Ventilzylinder – hat der TrumpetScout im Artikel über die Selmer Radial 75 ausführlich berichtet. Informationsstand beim Verfassen jenes Beitrags war, dass sich die drei Varianten der Radial B-Trompeten – 66, 75 und 99 – nur in ihrem Bohrungsmaß voneinander unterscheiden, dessen Nachkommastellen (bei der Angabe in Millimetern) sich in der Modellbezeichnung wiederfinden. Nach Veröffentlichung meldete sich ein Leser mit einer 99er Variante, deren Becher am Trichterrand angeblich 6 mm größer war als der der gestesten 75er. Diese Information fand zwar noch ihren Weg in den Radial-Test, konnte aber zunächst nicht verifiziert werden. Nun aber, knapp drei Jahre später, bekam der TrumpetScout eines der seltenen XL-Modelle in die Finger.
Die Unterschiede zwischen Selmer Radial 99 und 75
Zunächst zum Offensichtlichen: 11,75 mm sind schon nicht klein, aber 11,99 mm sind extrem. Wahrscheinlich hat der TrumpetScout noch nie eine Trompete mit größerer Bohrung gespielt. Selbst die extrem seltenen (weil großen) Schilke X4 oder Bach Stradivarius 43 XL haben nur 11,89 mm Durchgangsweite in den Ventilen. Das maximale, was je in TrumpetScout-Händen war, kam von Benge und lebt noch in einigen Derivaten fort (die berühmte Claude Gordon) oder von Flip Oakes (z.B. Wild Thing oder Celebration). In beiden Fällen sollte die Schieblehre 11,94 mm anzeigen. Die Radial 99 packt da nochmal ein halbes Zehntel drauf. So viel, wie nicht selten zwischen ML und Large Bore liegt. Hier sollte man sich das andere Ende des Spektrums kurz ins Gedächtnis rufen: Einige Connstellations sind nur mit knapp über 11 mm gebohrt. Dazwischen liegen mit den Augen eines Instrumentenmachers betrachtet Welten. Beide funktioniert aber sehr gut, womit eines wieder bewiesen wäre: Es kommt auf das Paket an.
Und damit zurück zu den Radial-Geschwistern. Die gleichen sich sehr stark, sowohl in Bezug auf Optik und Material. Auch bei der Radial 99 scheinen die Außenzüge wie auch das Mundrohr aus Neusilber gemacht. Dass dies bei Selmer einfach nicht so weiß strahlt wie bei anderen Trompeten, dürfte einer leicht veränderten Legierung geschuldet sein. Eine abtönende Lackierung würde sich nach 45 Jahren – es handelt sich beim Testmodell um eines aus 1976 – anhand von Fehlern verraten.
In amerikanischen Foren wird dagegen von Messingmundrohren berichtet. Das kann diesem anderen Markt geschuldet sein. Laut Trent Austin tragen die US-Modelle auch keine Modellbezeichnung auf der Mundstückaufnahme. Er sagt sogar, die drei Varianten seien speziell für den australischen Markt entwickelt worden. Das zumindest scheint fragwürdig, da Europa für Selmer wahrscheinlich wichtiger war als Australien und hierzulande – wenn überhaupt – gefühlt nur Radial-Trompeten mit Typenbezeichnung auf dem Receiver kursieren.
Anders als bei der Radial 75 ist bei der XL-Schwester tatsächlich der Becherverlauf. Mit bloßem Auge und ohne direkten Vergleich fällt auf, dass hier eine große Glocke eingelötet wurde. Das Messgerät verschafft Gewissheit: Es sind beim vorliegenden Modell 128 mm Durchmesser. Also ganze 4 mm mehr. Doch nicht nur der Durchmesser am Ausgang ist überdurchschnittlich, das Schallstück dürfte auch etwas früher öffnen. Dies lässt sich aber nicht genau sagen, da keine 75er Radial zur Hand war.
Gewiss ist jedoch ein Gewichtsunterschied bei den Schwestern. Bei der Radial 75 von 1969 zeigte das Display 1.147 Gramm an. Die sieben Jahre jüngere Radial 99 bringt nur 1.125 Gramm auf die Waage. Wohlgemerkt haben beide einen Trigger beim ersten Ventil montiert (es gibt nämlich auch Varianten nur mit Daumensattel). Bei größerem Becher kann das nur bedeuten, dass irgendwo Material eingespart wurde. Die Vermutung des TrumpetScout: eben genau beim Becher. Der wirkte bei der Radial 75 sehr solide und hier zumindest normal. Eventuell wurde auf dünneres Blech, vielleicht mit einem halben oder gar ganzen Zehntel geringerer Ausgangsstärke, zurückgegriffen.
So spielt sich die Selmer Radial 99
Kaum war das Video zu diesem Instrument hochgeladen, kommentierte ein Zuschauer, der selbst eine besitzt: „Der einzige Nachteil dieses Horns ist, dass meine Lunge und meine Lippen nach 20 bis 30 Minuten am Ende sind.“ Aus der Luft gegriffen erscheint einem das angesichts der Spezifikationen natürlich nicht. Einzig es fühlt sich anders an. Vielleicht ist es mit einem sinfonischen Mundstück wirklich so, aber mit einem engeren oder insgesamt kleineren funktioniert diese Grande Dame auch auf Dauer sehr gut. Der TrumpetScout hat einen längeren Gig im Wechsel zwischen Flügelhorn und dieser Selmer – in Kombination mit einem Yamaha Allen Vizzutti-Mundstück – zur eigenen Zufriedenheit erstaunlich gut über die Bühne gebracht. Und das nach langer Corona-Auftrittspause.
Offen bläst sich die Französin dennoch – wenn auch nicht so offen wie die im Bild oben gezeigte Olds Ambassador mit ML-Bohrung und deutlich kleinerem Becher. Ein Thema wie bei allen ‚großen‘ Trompeten ist deshalb das Einrastverhalten und die Intonation. Man hat hier einfach mehr Spielraum und muss daher die Töne genau anpeilen. Und wenn einem die Kraft ausgeht, dann kann ein D3 auch einmal hängen. Prinzipiell stimmt die Trompete aber, genau wie die anderen Selmer-Hörner, recht gut. Die Ansprache ist überdies – vor allem für ein Instrument mit einem Gewicht von über 1.100 Gramm und Neusilbermundrohr – magnifique.
Es gibt auch keinen Bereich, indem sich die Trompete spielt, als wäre sie außerhalb ihrer Komfortzone. Vom kleinen Fis bis zum As3 (den Ton mag die Radial 99 scheinbar besonders, aber generell bläst sie sich in der oberen Lage sehr frei) geht das Ding und gibt dabei auch stets eine gute Rückmeldung an den Spieler. Dem vermutliche dünneren Blech und dem größeren Becher sei Dank.
Die Ventile sind auch bei diesem Radial-Modell trotz eines vermeintlichen Verschleißbildes top, noch sehr dicht und blieben auch mit wenig Öl bislang kein einziges Mal hängen
Die XL-Selmer hat einen radialen Klang
Gerade in amerikanischen Foren wird über die Radials gerne geschrieben, sie hätten einen dunklen, breiten und orchestralen Ton. Schon im Test der Radial 75 urteilte der TrumpetScout ganz anders: „Die Trompete ist kernig und hell.“ Bei dem vielen extrem gelben Messing (d.h. eventuell ein noch geringerer Kupferanteil) und der Leadpipe ist das auch kein Wunder. Weiter heißt es: „Sie flirrt nicht wie eine Lightweight-Bach, hat also genügend Substanz, ist aber amerikanisch kernig und spuckt den Ton äußerst zielgerichtet aus.“ Der Radial 75 – und davon besaß der TrumpetScout bereits zwei – wurde das Sizzle-Potenzial fast ganzlich abgesprochen. Dafür projiziert sie extrem gut. Anders bei der größeren und leichteren Selmer Radial 99: Sie strahlt mehr in die Breite (und wird damit ihrem Namen doppelt gerecht), es kommt auch viel hinter dem Instrument an und ja, die Trompete scheint mehr zu singen, einen frequenzreicheren Ton zu produzieren. Gerade das spricht – neben der Becherform – auch für dünneres Blech.
Während der Testzeit stand neben der bereits erwähnten Ambassador auch eine Kühnl & Hoyer Universal Malte Burba zur Verfügung. Dass die Radial 99 die Olds in Sachen Lautstärke deutlich hinter sich ließ, war zu erwarten. Das ist nicht deren Stärke. Aber die French Lady hat auch die deutlich jüngere deutsche Trompete, die ebenfalls schreien kann, in den Sack gesteckt. Das will schon etwas heißen. Der TrumpetScout hat das auch beim Üben gemerkt: Es kann durchaus klingeln in den Ohren.
Dennoch verfügt auch diese Trompete über einen sehr klaren Sound. Von rauchig ist sie meilenweit entfernt. Das Erzeugen von Subtones fällt damit nicht so leicht wie mit anderen Hörnern.
Selmer Radial 99: Kaufempfehlung?
Machen wir’s kurz: ja. Der Klang ist toll, die Ansprache spitze, die Intonation gut und auch die weichen Faktoren sprechen für die große Französin – tolles Design und eine Meisterqualität, die auch unter der dicken Patina des Testmodells hervorlugt. Den Vergleich mit hoch- und höchstpreisigen modernen Trompeten muss dieses Artefakt beileibe nicht scheuen. Gegenüber der Radial 75 würde der TrumpetScout dem 99er Modell klar den Vorzug geben. Es ist einfach charakterstärker, tonlich reizvoller und auch spielerisch attraktiver durch mehr Offenheit und Feedback. Klar, das ML-Modell reizt dennoch auch. Vielleicht bietet das wieder ganz andere Vorzüge?
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Was man investieren muss oder maximal sollte? Die Dinger sind rar. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikel wird auf den großen Plattformen in Deutschland keine angeboten. Auch die kleinere Schwester ist kaum zu finden. Zwischen 800 und 1.400 Euro – abhängig vom Zustand – sind vollkommen okay. Drüber wird es dann wieder Liebhaberei. Und die lässt sich bekanntlich nur irrational begründen.