Gibt es Trompetengötter? Natürlich nicht. Alle auch noch so großartigen Könner des Instruments sind Menschen, die geboren werden, sich zu Meistern entwickeln und irgendwann auch sterben. Manche werden trotzdem unsterblich, da ihre Meisterschaft Weltgeschichte schreibt. Wynton Marsalis ist so ein Mensch. Der TrumpetScout sprach mit ihm.
Eine kleine Päambel: Dieser Artikel hat für den TrumpetScout eine besondere Bedeutung. Der Respekt vor Wynton Marsalis‘ Lebensleistung ist enorm groß, aber rationalen Ursprungs. Viel größer ist der Respekt vor der Musik, die er in jeder Sekunde erzeugt, wenn die Trompete an seinen Lippen klebt. Sie öffnet unweigerlich das TrumpetScout-Herz. (In diesem Zusammenhang wurde bei Facebook schon einmal exemplarisch eine Version von „All of me“ verwiesen, die er bei einer privaten Feier zum Besten gibt.) Zu viel Respekt ist prinzipiell nicht der beste Ausgangspunkt für journalistische Arbeit. Wenn dann noch Ergriffenheit und Pathos dazukommen, kann das Unterfangen ‚investigative Berichterstattung‘ (und es geht auf TrumpetScout.de stets darum, mehr zu erfahren und vom Wissen anderer zu profitieren) schon einmal leiden. Das diesem Artikel zugrunde liegende Interview war deshalb besonders anstrengend.
Wie das Interview mit Wynton Marsalis zustandekam
„Auch deshalb anstrengend“, müsste man sagen! Alles andere als leicht, wenngleich auch eine Geschichte für sich, war nämlich bereits die Anbahnung des Gesprächs mit Wynton Marsalis. Eine Anfrage bei seinem Management Wochen im Voraus blieb reaktionslos. Zu einem seiner Konzerte während des dreitägigen Aufenthalts in Wien zu gehen, war logistisch und terminlich nicht zu bewerkstelligen. Die Hoffnung, ihn ohne Termin tagsüber in ein Kaffeehaus entführen zu können, wäre außerdem naiv gewesen. Manchmal braucht es aber vielleicht auch ein wenig Naivität. Das zumindest bewies Thomas Gansch, der sich zum Soundcheck in das Wiener Konzerthaus begab, weil er nur ein Selfie mit dem berühmten Amerikaner wollte und am Schluss einen Auftritt im abendlichen Programm bekam, nachdem Marsalis ihn im Zuscherraum sitzend erkannte und sich als sein Fan outete.
Manchmal braucht es aber auch fremde Hilfe. TrumpetScout.de ist zwar eine ehrenamtliche Ein-Mann-Unternehmung, diese hat aber einige spezielle ‚Fans‘, die mittlerweile beinahe zu inoffiziellen Mitarbeitern geworden sind. Einer dieser Unterstützer antizipierte, dass sich das Lincoln Center Jazz Orchestra nach dem Konzert in der nahen Hotelbar treffen werde und bat Marsalis zu später Stunde kurzerhand um eine Interview-Möglichkeit per Telefon. Der sagte sie zu und nach einigen Verschiebungen war es dann soweit. Wynton Marsalis war ‚on the line‘.
Wynton Marsalis – most wanted trumpet player
„Zimmer 342, Wynton Marsalis bitte.“ Wie sich das anhört. Routiniert, als würde ich täglich mit dem Mann sprechen, der als erster Musiker überhaupt in einem Jahr sowohl den Klassik- als auch den Jazz-Grammy verliehen bekam – 1983, mit gerade einmal 22 Jahren! Doch als ich an diesem Morgen mit der Rezeption des Hotels spreche, ist das schon der x-te Versuch. Am Vortag war zur vereinbarten Zeit besetzt, dann nahm keiner ab. Beim dritten Mal dann der erste Kontakt: Er habe jetzt wegen anderer Interview-Verpflichtungen leider doch keine Zeit mehr, ich solle mich nach dem Konzert um 23 Uhr melden. Für eine solche Gelegenheit gibt es natürlich kein ‚zu spät‘. Als es dann fast soweit war, ließ Mr. Marsalis mir über meinen ‚Agenten‘ ausrichten, dass er sich an der Bar des Hotels von seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen noch nicht loseisen könne. (Mir wurde plötzlich klar, warum der Musiker gern in Manhattan lebt: Er ist dort vielleicht nicht ganz so wichtig wie im Rest der Welt.) Ich sollte es daher entweder um 24 Uhr probieren oder am nächsten Morgen um 10. Als Nicht-Nachtmensch entschied ich mich gegen das Experiment des Late Night Talks in fremder Sprache, sondern für den nächsten Morgen, wenngleich das eine nervöse Nacht zur Folge hatte. Wie ich im Nachhinein erfuhr, verließ Marsalis die Bar kurz vor Mitternacht. Er schien sich an sein Versprechen halten zu wollen.
Dennoch war für ihn die Nacht wohl zu kurz. Als ich Punkt 10 Uhr zu ihm durchgestellt werde, bittet er um weitere 30 Minuten. Ich fürchte, dass er bereits auschecken muss, noch bevor ich überhaupt die erste Frage stellen kann. Doch plötzlich ist er da und sehr präsent. Mein Plan aufgrund der knappen Zeit lautet, ihm nur Fragen zu seinen frühen Jahren zu stellen. Über seine späteren Jahre weiß man, wie bei den meisten arrivierten Künstlern, genug, außerdem prägen Kindheit und Jugend das Leben wie keine andere Lebensphase. Mich interessiert als TrumpetScout außerdem weniger der Künstler und Musiker Marsalis, sondern der Trompeter. „I just wanna ask you some trumpet focused questions.“
Eine Kindheit mit vielen Lehrern, aber ohne Trompetenlehrer
Anders als in einigen Biografien angeführt, begann der 1961 in New Orleans geborene Wynton Marsalis im Alter von sechs Jahren Trompete zu spielen. „Mit 12 begann ich zu üben“, ergänzt er aber klar differenzierend. Das kommt einigen Trompetern wohlbekannt vor. Oft wurde die Trompete bei jenen zwischen den Unterrichtstagen im Koffer gelassen. Beim jungen Marsalis war das aber anders. Er machte von Anfang an Musik: In der Kirche, in der Schule, zuhause beim Vater, dem Jazz-Pianisten Ellis Marsalis. Hatte er Trompetenunterricht? Nein. Das klingt für europäische Ohren zunächst unglaublich, ist aber in den USA gar nicht ungewöhnlich. Man bekommt ein Instrument in die Hand, probiert es ein bisschen aus und erhält dann von älteren Mitschülern oder dem Schuldirigenten ein paar Tipps, Grifftabellen oder eine Notenschule. Nimm das und schau, wie weit du damit kommst! Mit dieser Strategie ist man zwar auf der einen Seite allein auf weiter Flur, auf der anderen jedoch auch seines eigenen Glückes Schmied und wird nicht von jemandem geschmiedet – z.B. von einem dogmatischen Lehrer.
Lehrer für Musik hatte der kleine Wynton hingegen genug um sich. Zunächst natürlich seinen Vater, der selbst ein Schulorchester leitete, aber einfach sehr viele Musiker in New Orleans, in deren Kreisen er sich bewegte. Er nennt im Gespräch unzählige Namen, darunter eine wahre New Orleans Jazz-Legende, der Gitarrist Danny Barker und der international gefeierte Klarinettist/Saxofonist Kidd Jordan. Marsalis macht indirekt klar: Er war nicht von Trompetern umgeben, sondern von Musikern. Noch ein Schritt weitergehend: Er war nicht angestachelt von Etüden, sondern getrieben von Musik. Die ersten Jahre spielte er nur nach Gehör. Eine Praxis, die sich in den Lebensläufen vieler großartiger Musiker wiederfindet.
War Wynton Marsalis ein trompeterisches Wunderkind?
Mich interessiert, wie jemand mit 12 Jahren zu üben beginnt, keinen Trompetenlehrer hat und nur zehn Jahre später einen Klassik-Grammy für die Aufnahme u.a. des Hummel-Konzerts in der Tasche hat. Ich frage den heute 56-Jährigen nach dem Überwinden von technischen Hürden, weil ich mir sicher bin, dass er eine musikalische Ausnahmebegabung ist, aber nicht weiß, ob er auch ein Wunderkind auf seinem Instrument war. „I would like to separate music from technique“, leite ich meine Frage dahingehend ein und kenne im Grunde schon seine Antwort: „Man kann die Technik nicht von der Musik trennen!“ Ich entgegne, dass das für junge Musiker schwer zu verstehen sei, die gerade mit einem Problem zu kämpfen haben, das ihnen übermächtig erscheint, obwohl sie sehr viel Leidenschaft für die Musik hegen und auch sehr diszipliniert üben. Leidenschaft sei überhaupt das A und O – und wenn sie für die Musik nicht ausreiche, dann müsse man zumindest leidenschaftlich üben können, erklärt Marsalis leicht glucksend. Ohne Fleiß eben kein Preis.
„Auch wenn es widersprüchlich klingt, wir haben beide Recht“, räumt der in Trompeter mit dem Stimmtimbre eines Don Corleone ein. „Das sind zwei Facetten eines Diamanten – if you know what I mean.“ Dieses Bild benutzt Marsalis übrigens noch öfter. So z.B. für Konzerte mit ’seiner‘ Band, dem LCJO: Auch wenn er das große Zugpferd ist, wäre es langweilig, wenn nur er die Trompetensoli bliese. Jeder Musiker steuert seinen Schliff bei.
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In Bezug auf das Erreichen der Übeziele heißt das: Die Wahrheit ist komplex und was für den einen gilt, muss nicht auch für den anderen gelten. Für Marsalis war das Erlernen von Technik schlicht eine Randerscheinung des Strebens nach seinen Vorbildern. Möglicherweise hat er sich gar nicht zu viele Gedanken gemacht, auch weil er so extrem früh schon Vieles buchstäblich spielerisch erlernt hat.
Der bravouröse Wynton Marsalis: das „Carnival“-Album
Wie früh, erfahre ich, als ich noch einmal über einen Umweg versuche, etwas über Marsalis‘ Erfahrung mit technischen Problemen herauszufinden – auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt bereits verstanden habe, dass es um Antworten auf meine „trumpet specific questions“ überhaupt nicht gut bestellt ist. Ich erzähle Marsalis, wie beeindruckend es für mich war, als ich als kleiner Junge zum ersten Mal das „Carnival“-Album voller Bravour-Stücke hörte. Die Trompetenlehrer gaben es damals an ihre Schüler weiter wie Dealer einen neuartigen Stoff in der Drogenszene verbreiten. Uns blieb allen buchstäblich die Spucke weg. Als Anfänger im noch nicht einmal zweistelligen Alter war ich elektrisiert von der Schnelligkeit, der Kraft und der Makellosigkeit: „When I was around ten, I have to be honest, musicality didn’t matter to me.“ Wie hat er das mit gerade einmal Mitte 20 (das Album erschien in den USA 1987) geschafft? „Klar musste ich dafür üben.“ Jetzt darf er nicht vom Haken! Wie z.B. ging das mit der Zirkularatmung im unglaublichen „Moto Perpetuo“? Die simple Antwort: Die konnte er zu diesem Zeitpunkt schon sein halbes Leben! „Ein befreundeter Flötist beherrschte die Technik und so erlernte sie Wynton auch – als 13-Jähriger. Wahrscheinlich auch mit der Geschwindigkeit und Leichtfüßigkeit wie 13-Jährige sie eben gerade noch haben.
Die Antwort auf die Frage nach einer außergewöhnlichen technischen Begabung des jungen Marsalis fällt nach den Schilderungen des Meisters anders als erwartet aus: Sein Umfeld schien es ihm leicht gemacht zu haben, sehr früh sehr gut zu werden. Das soll keineswegs seine Leistung schmälern, denn werden muss man doch selbst. Aber Marsalis war umgeben von guten Musikern, die selbst immer noch besser zu werden suchten und täglich viele Stunden übten – sein Vater eingeschlossen. So gehörte es für den jungen Mann so unstrittig zum Leben, mit dem Instrument zu arbeiten, dass dieser Weg zum Erfolg alternativlos erschien. Jener Geist ist aber eben auch auf fruchtbaren Boden gefallen. Das strebsame und fleißige Umfeld hätte ebenso wie ein Gefängnis wirken können, aus dem er nur möglichst schnell hätte ausbrechen wollen.
„Jazz music is European Harmonies, but played with African sensibility.“
Als Kind aus New Orleans, der (sogar namensgebenden) Hauptstadt des frühen Jazz, wuchs Wynton Marsalis mit eben diesem traditionellen New Orleans Jazz in den 1960ern und frühen 1970ern obendrein noch in einer Musikerfamilie auf. Die Musik eines 60 Jahre zuvor geborenen Louis Armstrong wurde quasi bereits in seiner DNA verankert. Marsalis erzählt von frühesten Einsätzen bei Begräbnissen, die von unserer europäischen Bilderbuchvorstellung einer ’schwarzen‘ Südstaatenmusik wahrscheinlich gar nicht weit abweichen. Er nennt verschiedene Stücke, darunter „Nearer my God to Thee“ (von dem wir alle wissen, dass es auf der Titanic angeblich kurz vor Untergang gespielt wurde). Ich sage aus dem Bauch heraus, dass ich das auch schon oft zu Beerdigungen spielte und es ein europäisches Lied sei. „Of course“, platzt es aus ihm heraus, „the trumpet is a European instrument. And jazz music is Anglo-Celtic – and I mean Anglo-Celtic, not Anglo-Saxon! – Anglo-Celtic harmonies, but played with African sensibility!“
Wynton Marsalis und die Klassik, die „Musik der Weißen“
Mir ist, als hätte ich einen wunden Punkt berührt. Ich notiere ’sensibility‘, wohlwissend, dass unsere Sensibilität auf Englisch eigentlich Sensitivity heißt. Die spätere Recherche ergibt eine alte Übersetzung als ‚Herzenstakt‘. Jazz ist also eine Fusion aus alter europäischer Musik, erweitert um inniges Gefühl. Aber in dieser Aussage schwingt auch der Konflikt zwischen Schwarz und Weiß mit, zumindest eine Ungleichheit in den Vorzügen.
Marsalis erzählt von der ‚Segregation‘, der Rassentrennung, die noch offiziell in den USA bestand, als er geboren wurde, und in den Südstaaten sicher noch stärker zu spüren war als im Norden. Klassik war für ihn eine Musik der Weißen. Aber wie kam er dann zu einem Klassik-Grammy? Sein Vater, erklärt Marsalis, sei immer offen für Neues gewesen, ein Vordenker, dem Konventionen egal waren. Er gab ihm eine Kassette mit Aufnahmen von Maurice André. Doch nicht nur dessen Musik faszinierte ihn, sondern auch dessen Werdegang. Denn im Booklet las der damals erst 12-Jährige Wynton, dass André einst ein Bergarbeiter war und aus einer Bergarbeiterfamilie stammte. Dieser Bruch mit einer vermeintlich vorbestimmten Karriere dürfte ihn gereizt haben. „Also war die Klassik schlicht eine Herausforderung für Sie?“ Mr. Marsalis zögert kurz, aber sagt ‚ja‘.
„Ich will mich nicht mit denen messen, die ihr ganzes Leben der Klassik widmen.“
Man darf deshalb nun nicht an der Aufrichtigkeit von Marsalis‘ Liebe zur klassischen Musik zweifeln. Er hört noch immer sehr viel Trompetenliteratur, schwärmt von Timofei Dokschizer, Maurice Murphy, Gabor Tarkövi, Håkan Hardenberger und Hans Gansch. Das letzte klassische Konzert habe er aber vor 20 Jahren gespielt. Ich wittere einen Rückweg zum Thema Technik: Wie gelang es damals, parallel Jazz und Klassik zu spielen? Wie lange würde es brauchen, wenn er wieder umsteigen wolle? Tage, Wochen, Monate? Marsalis winkt verbal ab. Es wolle sich nicht messen mit den oben Genannten, die ihr ganzes Leben der klassischen Trompete gewidmet hätten. Ob er es damals also nicht ernst gemeint habe, muss ich hier natürlich fragen. „Yes, I was serious.“ Überzeugend klingt das nicht, vielmehr als sei der Marsalis zwischen 17 und 30 ein ganz anderer Mensch gewesen, über dessen durchaus motivierende Trotzigkeit er heute vielleicht auch einfach nicht mehr so gern spricht. So oder so, seine Leistung ist verbrieft. Marsalis schaffte es sogar zwei Mal in Folge (1983 und 1984), den Grammy in der Sparte Klassik und Jazz verliehen zu bekommen.
Die Frage nach Marsalis‘ stilistischer Zweigleisigkeit ist eine sehr spannende. Zusätzlich zum Reiz des Neuen gab es in New Orleans auch den Druck der Notwendigkeit: Es gab keine drei Trompeter dort, die Haydn, Mozart oder Mahler spielen konnten oder wollten. Der junge Mann erhielt also viel Spielpraxis. Dennoch bleibt der Eindruck bestehen, dass Marsalis Jazz nicht lernen musste, sondern gewissermaßen mit der Muttermilch einsog und die Klassik eine Möglichkeit war, sich auszuprobieren und zu beweisen.
Ein Indiz dafür dürfte die Rückkehr zu traditionellem, ja beinahe kanonisiertem Jazz in den späten 80er und frühen 90er Jahren sein. Marsalis sagt klar, dass er seit den 70ern bemerkt habe, wie Jazz aus der Öffentlichkeit verschwinde. Er sei nicht mehr gelehrt worden und hätte auch in der Populärkultur keine große Rolle mehr gespielt. „It was deleted out of the history.“
Wynton Marsalis als Museumsdirektor des Jazz
Dass er sich als Advokat und Verteidiger eines traditionellen Jazz fühlt, ist bei seiner Abstammung verständlich. Ob die Bedrohung so groß war, ist fraglich. Für einige Kritiker ist Marsalis ein Konservativer, ein Ewiggestriger, ein Hardliner, dessen Jazz-Toleranz nur bis zum Hard Bop reicht, also quasi da aufhört, wo er geboren wurde. Es stimmt wohl, dass Wynton Marsalis als musikalischer Leiter des Jazz at Lincon Center Orchestra mit staatlichen Förderungen seit den frühen 90ern gewissermaßen eine Retrospektive nach der anderen auf die Konzertbühnen New Yorks und der Welt bringt. Aber die meisten Museen blicken auch nur zurück und machen trotzdem Sinn – und vor allem vielen Menschen Freude. Außerdem ist der Gedanke abstrus, dass Jazz sich stündlich neu erfinden müsse, während sich ein Gutteil des Klassikprogramms seit Jahrhunderten faktisch nicht verändert. Ist es kein schöpferischer Akt, wenn in jedem Solo eine neue Melodie auf die Welt gebracht wird? Und falls Jazz jemals von der Vergessenheit bedroht gewesen sein sollte, so kann sich Wynton Marsalis sicher nicht vorwerfen, er habe nichts dagegen getan.
Nach einer Dreiviertelstunde muss Marsalis seine Sachen für die Weiterreise packen. So viel Zeit hätte ich mir sowieso nicht erwartet. Ich frage noch einmal etwas sehr Bodenständiges: „How much do you practice?“ – „I have my routine. But the hours… it depends on the intensity.“ Er murmelt Zahlen zwischen 3 und 7 Stunden, denkt dann kurz nach und scheint sogleich über sich selbst lachen zu müssen: „You know, I practiced a lot in my life.“ Ich glaube ihm das und bin froh, dass ich mir das Wort ‚prodigy‘, also ‚Wunderkind‘, das ganze Gespräch hindurch verkniffen habe, weder im Bezug auf Technik noch auch Musikalität. Es geht eben um passion und sensibility. Beides kann man nämlich auch im fortgeschrittenen Alter noch haben.