Das System für Faule: Tobias Weidingers „Daily Routine“

Was macht eigentlich ein klassischer Lead-Trompeter wie Tobias Weidinger, um sich fit zu halten, wenn die Übemöglichkeiten eingeschränkt oder die außerblechlichen Ablenkungen zu verlockend sind? Er spult ein effizientes Minimalprogramm ab oder wie er selbst sagt: „ein System für Faule“. Hier ist es!

Als der TrumpetScout im letzten Jahr Tobias Weidinger für ein Porträt interviewte, kam die Frage nach einem speziellen Trainingsprogramm auf, das dem kraftvollen Nürnberger Trompeter gewährleistet, sein Niveau zu halten, auch wenn reise- aber nicht immer spielintensive Tourneen ausgedehnte Übe-Sessions vereiteln oder schlicht die Lust für ausgiebige Workouts fehlt. Richtig beantwortet wurde sie bisher nicht. Verraten hat der Wahl-Kölner nur, dass er mit Lennart Axelsson gemeinsam ein „System für Faule“ ausgearbeitet habe, das nicht viel zeit in Anspruch nehme, aber recht wirkungsvoll sei.

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Ein Programm für Faul(tier)e? Irgendwas mit Cat ist dabei.

In vielen Nachrichten wurde seither nach dieser Routine gefragt. Endlich ist sie zugänglich, und das sogar mit den Erklärungen von Tobias Weidinger selbst, der hier also als Gastautor auftritt. Der TrumpetScout hat das Programm natürlich bereits selbst ausprobiert und kommentiert die Übungen aus seiner Sicht.

Was das System bewirkt – und was nicht

Bevor es losgeht, soll vorweg eines geklärt werden: Mit diesen Übungen wird man natürlich nicht automatisch zum zweiten Tobias Weidinger. Es handelt sich hierbei um keinen So-spielst-du-höher-und-lauter-Trainingsplan. Also nix mit „Exploring the Trumpet’s Upper Register“ (wenn es auch hoch hinaus gehen kann…), kein 30-Tage-irgendwas-Versprechen.

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Tobias Weidinger, der Mann, der dieses Programm zusammengestellt hat. Foto: www.carlitopix.com

Was die Übungen leisten können, beschreibt Weidinger so: Ziel dieses kleinen Programmes ist es, Stabilität in die Muskulatur zu bekommen und langsam aber sicher die Ausdauer zu erhöhen. Das Auf und Ab der Lippen – ein Tag super, der nächste furchtbar – wird, bei regelmäßiger Anwendung, reduziert, sodass man im Idealfall immer sein volles Potential abrufen kann. Dabei ist dieses Programm für mich und vielen anderen zu einer echten Grundlage geworden, um seine Kraft zu halten und zu verbessern.

Was der TrumpetScout mit Sicherheit sagen kann: Wer diese Übungen gewissenhaft und gemäß den Anweisungen durchführt, wird ganz bestimmt nichts kaputt machen (denn es geht hier nicht um Ansatztechniken oder grundlegende Eingriffe in das Spielsystem) und mit höchster Wahrscheinlichkeit von ihnen profitieren.

Weidingers Warm-Up: Aufwärmen aus dem Nichts

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Bei den ersten beiden Zeilen handelt es sich um sogenannte „Whispernotes“. D.h., man setzt das Horn an, mit normaler Maske, bläst aber nur Luft hindurch und wartet darauf, dass die Chops von selbst das Schwingen anfangen. Ziel ist es, einen Ton zu produzieren, der eigentlich nur leicht schwingt, sozusagen eine Vorstufe des „normalen“ Tons. Es kann gut und gerne mal einige Minuten dauern, bis die Lippen anfangen zu arbeiten. Deshalb spricht man auch scherzhaft von einem 20 Minuten-G. Man muss auch nicht die ganze Zeit über die Maske aktiv halten. Immer wieder absetzen und neu anfangen ist völlig in Ordnung. Wir wollen uns ja aufwärmen und nicht schon zu Beginn verausgaben.

Die meisten Leser kennen diese Übungen aus dem Cat Anderson-Traningsplan. So natürlich der auch der TrumpetScout. Er erinnert sich qualvoll an die disziplinierte (und falsche) „Vollstreckung“ dieser Anweisung als 14-Jähriger. In diesem Alter folgt man noch eher blind einer Angabe, ohne sie zu hinterfragen. Deshalb also nun nicht gleich abwinken und sagen: „Kenn ich schon, bringt nichts.“ Um den Fehlern und negativen Effekten von einst bei den Scouties heute vorzubeugen, hier nochmal in aller Deutlichkeit, was zu beachten ist:

  • Gewonnen hat nicht, wer 20 Minuten das Mundstück auf dem ramponierten Fleisch hatte. Immer wieder absetzen!
  • 20 Minuten sind nicht die Messlatte, sondern die schwingenden Lippen. Je nach Tageszeit oder Verfassung reichen auch 5 – 10 Minuten.
  • Kein Zungenstoß, nur Luft!
  • Piano ist zu laut. Pianissimo ist zu laut. Alles ist zu laut, was außer für einen selbst hörbar ist. Daneben sollte jemand anders arbeiten, telefonieren oder fernsehen können. Kein Witz!
  • Zur Überprüfung: Die Vorstufe zu einem „normalen“ Trompetenton hört sich an wie eine Glasharfe oder eine Angelschnur im Wind.

Wichtig ist, das man nichts forciert und den Lippen die Zeit gibt, sich aufzuwärmen. Wenn die Lippen erst einmal arbeiten, ist es das nächste Ziel, diesen Sound stabil zu halten. Er sollte nicht ausbrechen oder aufhören. Der positive Nebeneffekt hierbei ist, dass man gezwungen wird, eine absolut stabile Luftsäule zu halten, damit der Ton nicht an Stabilität verliert. Cat Anderson machte diese Übung übrigens immer mit geschlossenen Zähnen. Ich persönlich mache das nicht.

Der TrumpetScout konnte keinen echten Unterschied zwischen geschlossenem oder leicht geöffnetem Kiefer feststellen. Geschlossen ist vielleicht bequemer. Bemerkbar war aber ein großer Unterschied zwischen G und C. Der höhere Ton war viel, viel schwerer zu erzeugen. Leichter kam sogar manchmal ein G2 über die Lippen.

Die 5 Momente von Lennart Axelsson

Die zweite Übung, sind die „5 Momente“, die mir von Lennart Axelsson gezeigt wurden. Ich habe mich mal eine Zeitlang mit Caruso beschäftigt, der war mir aber immer zu heftig, da ich am nächsten Tag einen regelrechten Muskelkater im Gesicht hatte und das Spielen sehr Mühsam war.

Have a break

Ich vergleiche es immer gerne mit Hantelübungen im Fitnessstudio. Man nimmt sich ja im Normalfall eine Hantel und macht vielleicht 10 Wiederholungen. Danach ein kurzes Päuschen und die nächsten 10 und man hat den Effekt eines langsamen aber gesunden und stetigen Muskelaufbaus. Nimmt man aber die Hantel und macht 100 Wiederholungen und geht dann nach Hause, fällt einem am nächsten Tag der Arm ab und man hat keinen Trainingseffekt. Diese „Fünf Momente“ stellen für mich das ideale Trainingsprogramm dar.

Teil 1: Nach unten und wieder zurück

Das Tempo auf dem Metronom sollte bei 75 bis 80 Schlägen pro Minute liegen. Dynamisch bleibt man bei Mezzopiano bis Mezzoforte. Jede Note soll zwei 4/4-Takte, also acht Schläge, ausgehalten werden. Ob die jeweils nächste Note gestoßen oder gebunden wird, bleibt jedem selbst überlassen. Ich stoße erst und binde dann die Folgetöne an.

Wichtig ist, das man immer genauso viel Pause macht, wie gespielt wurde. D.h. sechs Takte spielen, sechs Takte Pause und dann die nächste Einheit. Nach jedem der fünf Momente ist eine kurze Pause zur Erholung empfohlen.

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Die ersten beiden der „5 Momente“

Man sieht bereits deutlich, dass dieses Programm spezifisch und komprimiert auf die Konditionierung des Muskelgedächtnisses abzielt, kann aber auch erahnen, dass man doch eine Portion Geduld haben und ein bisschen Zeit aufbringen muss. Die meisten werden nach diesen ersten Momenten noch kein Ziehen in der Gesichtsmuskulatur bemerken. Das ist aber auch in Ordnung so. Der Sinn des Entspannens und wieder Zurückkehrens zur Ausgangsspannung hilft bei der Stabilisierung der Mundwinkel und der gesamten Maske. Also: Keine Eile! Hetzen bringt nichts, abkürzen ist sinnlos und man sollte gleich etwas anderes üben.

Teil 2: Nach oben, zurück und weiter nach oben

Wenn man mit diesen Übungen anfängt, kann es gut sein, dass sich bei der dritten Übung langsam die Anstrengung bemerkbar macht und die Mundwinkel ermüden. Dann einfach aufhören und am nächsten Tag von vorne beginnen. Wie schon erwähnt, wollen wir uns nicht überanstrengen, sondern langsam aber sicher zu mehr Ausdauer und Kontinuität kommen.

Ziel ist es, durch alle fünf Momente bequem spielen zu können. Wenn man dann noch Kraft und Lust hat, kann man die Übung noch gerne fortführen bis zum G3 oder aber auch darüber hinaus ;).

Und noch einmal: Wenn es anstrengend wird, AUFHÖREN!

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Open end! Wer mag und kann, darf gerne mit den Griffen der unteren Oktaven oben weitermachen.

Wer Zeit sparen möchte und wen es nicht anstrengt, dem empfiehlt der TrumpetScout, die längere Pause zwischen den Momenten auszulassen, sondern einfach die üblichen sechs Takte auszusetzen.

Ganz wichtig aber auch bei dieser Stufe der Moment-Übung: leise bleiben! Es gibt im Grunde kein „zu leise“, nur ein „zu laut“, und das sogar ganz schnell. Wenn der Ton nicht kommt, dann am nächsten Tag weitermachen, nichts erzwingen. Es geht nicht darum, vor sich selbst zu bestehen, indem man auf Gedeih und Verderb beweisen will, dass man „das D doch normalerweise kann“.

D(3) als Beispiel deshalb, weil man das Programm eben beliebig nach oben fortsetzen kann. Dabei orientiert man sich an den Hilfsgriffen und Intervallen tieferer Lagen.

Das Fazit zur Weidinger-Daily Routine

So unscheinbar es aussieht, so wirkungsvoll ist es. Wer jetzt beim Lesen denkt „Darauf habe ich gewartet?“, möge dieses Programm probeweise durchziehen, eine Woche, vielleicht auch zwei. Der Sommer bietet sich dafür ja geradezu an. Der TrumpetScout hat sich schon nach einem Tag grandios gefühlt. Und genau darum geht es – die Trompete an den Mund zu nehmen und sich zu denken: „Fühlt sich heute gar nicht scheiße an!“ Das bringt Vertrauen, Stabilität, bessere Leistung.

Aber kann man dieses Programm jeden Tag spielen? Damit kommen wir zum Zeitaspekt. Je nachdem wie lange die Einspielphase dauert und wie weit man die Momente durchturnt, braucht man für das Training 60 Minuten oder eben mehr. Für einen professionellen Trompeter, ist das Investment von einer Stunde ein vergleichsweise geringes. Für den Laien ist das dagegen schon eine Zeit, die man nicht immer hat. Wenn man auch noch andere Dinge proben will, wird es möglicherweise ganz eng.

60 Minuten

Der TrumpetScout-Tipp deshalb: Auf jeden Fall das Warm-Up-G in die tägliche Routine einbauen (und das sagt ein notorischer Aufwärmmuffel!). Beim „halben G“ spürt man richtig, wie das Blut in die Lippen fließt. Es kitzelt und kribbelt, der Motor wird schonend warmgefahren, von was man die ganze Spiel-Session hindurch profitiert. Die ganze Übung sollte man aber doch regelmäßig und am besten mindestens ein paar Mal pro Woche exerzieren. Auch das hilft schon.

Kurz: Ein Training frei von Ansatzideologien, mit dem man keinen Schaden anrichten und bei dem intellektuell sogar abschalten kann. Der Wechsel von sechs Takten blasen und sechs Takten pausieren hat (vor allem mit Metronom) etwas Meditatives, fordert in der Gesamtheit aber auch Zeit und Geduld. Was dabei herausspringt ist auf jeden Fall ein gutes Lippengefühl und mit der kontinuierlichen Verfolgung auch eine verbesserte Ausdauer.

Zum Schluss natürlich noch das vollständige PDF zum Download.